MARKTKOMMENTAR

WIE DIE EUROPAWAHLEN AUF WIRTSCHAFT UND BÖRSEN WIRKEN

Die Wahlen zum Europaparlament haben in diesem Jahr deutlich mehr Aufmerksamkeit erzeugt, wie nicht zuletzt die Wahlbeteiligung von 65 Prozent in Deutschland zeigt. Auch wenn der Durchschnittswert in der Europäischen Union (EU) nur bei 51 Prozent liegt und es eine breite Spanne zwischen 21 Prozent Wahlbeteiligung in Kroatien und fast 90 Prozent in Belgien gibt, interessieren sich offensichtlich wieder mehr Menschen für die Politik auf europäischer Ebene. Das ist ein gutes Signal, denn Europa muss künftig eine größere Rolle spielen, um den Standort im internationalen Wettbewerb zukunftsfähig zu positionieren.

Ein stärkerer Fokus auf die Staatengemeinschaft erfordert jedoch Anpassungsprozesse auf nationaler Ebene und erzeugt politische sowie gesellschaftliche Reibung, die sich wiederum auf die Börsen auswirken können. Jüngstes Beispiel sind die ausgeweiteten Risikoprämien für französische Staatsanleihen seit der Ankündigung von vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich und in der Folge überdurchschnittlich stark gesunkene Kurse vieler französischer
Aktien. Schließlich könnten die Staatsschulden Frankreichs im Falle einer stärkeren politischen Einflussnahme populistischer Parteien weiter ansteigen. Schon jetzt hat die EU-Kommission ein Defizitverfahren gegen das Land wegen Verstößen gegen die EU-Schuldenregeln eingeleitet und die Ratingagentur Moody‘s hält eine Herabstufung der Kreditwürdigkeit Frankreichs für möglich. Wegen der Befürchtung einer neuen Vertrauenskrise der Eurozone zogen auch die Renditen anderer EU-Staaten wie Italien, Portugal oder Griechenland an und unterstreichen den ohnehin bestehenden Zusammenhang der einzelnen Volkswirtschaften. Es ist nicht auszuschließen, dass die Europäische Zentralbank bei zunehmender Unsicherheit erneut die Gemüter beruhigen muss.

Doch auch mittel- bis langfristig werden die Auswirkungen der Europawahl von Bedeutung sein, denn die Aufgaben für die neue Legislatur sind enorm. Angesichts zunehmender geopolitischer Konflikte und im Zuge der ökonomischen Neuordnung der Welt ist ein starkes und in wesentlichen Punkten einiges Europa für jedes einzelne EU-Mitglied wünschenswert. Daher wollen viele ursprünglich europakritische Parteien – beispielsweise in Frankreich und Italien – mittlerweile nicht mehr aus der Gemeinschaft austreten und unterstützen den Euro grundsätzlich.

Sollte in den USA im Herbst ein Regierungswechsel anstehen, könnte die Bedeutung Europas bei der Hilfeleistung für die Ukraine im Krieg gegen Russland und zur Wahrung der eigenen Sicherheit deutlich zunehmen. Auch aufgrund der veränderten Rolle Chinas im weltwirtschaftlichen Kontext – zunehmend als Konkurrent und weniger als Zulieferer – oder bei der Bewältigung des Klimawandels ist ein geschlossenes Auftreten Europas hilfreich.

Zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wäre eine Kapitalmarkt- und Bankenunion ein wichtiger Schritt. Und natürlich spielt auch die Koordination der Einwanderung eine Rolle. Das Thema polarisiert viele europäische Gesellschaften, während andererseits dringend qualifizierte Zuwanderung benötigt wird, um dem allgegenwärtigen Arbeitskräftemangel zu begegnen. Der Weg zurück in die reine Nationalstaatlichkeit wäre angesichts dieser globalen Herausforderungen falsch.

CARSTEN MUMM

CHEFVOLKSWIRT, CFA,
BEI DONNER & REUSCHEL.


Er verantwortet die Erstellung der hauseigenen Kapital­markt­meinungen und -publikationen sowie deren Präsentation in Veranstaltungen, in der Öffentlichkeit und in den Medien. Im Zuge der Fusion der beiden Bankhäuser CONRAD HINRICH DONNER in Hamburg und Reuschel & Co. Privatbankiers in München im Jahr 2010 führte Carsten Mumm die beiden Asset-­Management-Einheiten zusammen. Anschließend erfolgte unter seiner Verantwortung die zunehmende Ausrichtung der Asset-Management-­Strategien auf die Bedürfnisse institutioneller Kunden. Seit 2021 ist Carsten Mumm Mitglied im Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbandes deutscher Banken.